WARUM INNERE RUHE SO SCHWERFÄLLT


Picture by Nathan Dumlao on Unsplash.com
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1 DAS kopfkarussel bremst langsam

 

Ich schreibe diesen Artikel im Januar 2021 während des 2. Corona Lockdowns. Also zu einer Zeit, in der wir uns schon fast daran gewöhnt haben, dass wir nicht viel unternehmen können und dürfen - außer was Zuhause oder an der frischen Luft. Je nach Lebenssituation konfrontiert uns diese Zeit mit unterschiedlichsten Herausforderungen, von Angstzuständen, Familienstress bis hin zu Unsicherheiten, finanziellen Nöten oder Jobschwierigkeiten. 

Ich möchte mich aber einem Thema widmen, das aktueller denn je ist und mich auch schon vor Lockdown-Zeiten beschäftigt hat: Wie zur Hölle wird man innerlich ruhig?

 

Im zweiten Lockdown haben wir uns schon an den ganzen Stillstand gewöhnt und können Vergleiche zum ersten Lockdown ziehen. Dadurch, dass im Außen alles wieder innehält, ist der Fokus erneut voll und ganz bei uns. Und können uns nicht mehr vor der Tatsache verschließen, dass diese merkwürdige Situation mit offenem Ende an vielen Stellen total überfordert.

Denn für manche ist die größte Herausforderung, das innere Hamsterrad anzuhalten.

Die inneren Kritiker:innen zum Schweigen zu bringen.

Das Kopfkarussel zu stoppen.

Die springenden Affen im Hirn zum Stillstand zu zwingen.

Die Gedankenwolken zum Vorbeiziehen zu bewegen.

Die Neuronenautobahn zu entschleunigen.

 

Aber so einfach wird man nicht zum tiefenentspannten Gelassenheits-Guru!


Picture by Victoria Tronina on Unsplash.com
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2 ES GIBT DOCH IMMER WAS ZU TUN

 

Eine der größten Schwierigkeiten ist, dass wir "Ruhe" negativ bewerten; ohne, dass wir uns darüber im Klaren sind. Da wir ansonsten andauernd funktionieren, im Job stramm stehen, für Freund:innen und Familie da sind, und meistens noch ein ausgedehntes Hobby- und Freizeitprogramm abarbeiten, kommen wir selten außerhalb eines Urlaubs wirklich zur Ruhe. Für Ruhe ist in unseren vollgepackten Leben normalerweise gar kein Platz.

Es gibt das Sprichwort Ausruhen kannst du, wenn du tot bist. Demnach ist Ruhe was für die, die nicht mehr können und eigentlich schon am Ende oder der Erde sind. Meistens merken wir merken gar nicht, dass wir nie stillstehen.

Meine Osteopathin sagte mir damals oft verzweifelt: "Sie machen ZU VIEL! Sie brauchen Ruhe!" Und ich wusste echt nicht, was sie meinte. Für mich war Ruhe mit aktivem Tun verbunden, und wenn es nur mein Sportprogramm als Ausgleichs zum Korrigieren war.

 

Wenn wir uns also wirklich mal richtige Ruhe gönnen – also etwas, das keinerlei Aktivität einfordert – fühlen wir uns meistens schlecht, denn wir sind gewohnt, dauerhaft in der Aktion, Leistung und Handlung zu sein. In der Ruhe fühlen wir uns faul und als würden wir uns vor dem, was wir noch zu erledigen haben, drücken. So, als wollte man uns fest- und abhalten von dem, was wirklich wichtig ist: „Ich muss noch putzen, aufräumen, den Vortrag vorbereiten, meine Freundin anrufen und zum Fitnesskurs um 8 gehen.“

Es gibt immer noch so viel zu erledigen, da kann und darf man nicht NICHTS tun.

Doch in einer Zeit der Lockdowns geht das plötzlich und wir merken: Eigentlich ist es ganz schön, wenn man mal keine Hobbys ausüben oder Leute treffen "muss"!

 

Wir bewerten Ruhe also oft als Faulheit, Langeweile oder gammeliges Drücken vor wichtigen Aufgaben.

 

Man sagt ja nicht umsonst: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Würde man Ruhe jetzt als Vergnügen sehen, dann darf man sie sich ja ohnehin nicht gönnen, bevor ALLES andere erledigt ist. Und es gibt ja immer was zu tun. Wir gestehen uns Ruhephasen also oft erst dann zu, wenn wir wirklich ALLE wichtigen Aufgaben erledigt haben. Auch, wenn wir vielleicht schon vorher dringend eine richtige Auszeit gebraucht hätten.

 

Picture by National Cancer Institute on Unsplash.com
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Leider lernen wir wahrhaftige Ruhe oft erst durch harte Lektionen und müssen meist mehrfach vollkommen schachmatt gesetzt werden, bis wir Warnschüsse verstehen. Im Funktionswahn begreifen wir körperliche Symptome meist nicht rechtzeitig, drücken sie in der Regel drücken weg und treiben uns aktionistisch weiter an, weil wir uns "so richtige Pausen" erst zugestehen, wenn wir nicht mehr anders können und „so richtig krank sind“.

Erst DANN haben wir Ruhe wirklich verdient! 

Ich hab mal den Spruch gehört: "Jeder bekommt die Verletzung, die er braucht."

So dürfen wir oft erst im erzwungenen Stillstand lernen, dass es unsere Verantwortung ist, unserem Körper Ruhe zu erlauben BEVOR er diese Pausen selbst einfordert. Aber Übernehmen wir ZU SPÄT Verantwortung für unsere eigenen Pausen, kann das fatale Folgen haben: Nicht immer erholt sich ein Körper von rastlosem Raubbau und pausenlosem Aktionismus.  

 


3 DOLCE FAR NIENTE

 

Was aber, wenn wir RUHE einfach anders betrachten? 

 

Die Italiener:innen genießen schon lange ihr "Dolce far niente", das süße Nichtstun - ohne es sich erst verdienen zu müssen! Die haben längst begriffen, dass Ruhe keine Zeitverschwendung ist, sondern dringend notwendig und unser Leben ohne Phasen der Ruhe nicht vollständig.

Ruhe ist ein kreativer Schwebezustand, in dem sich Gedanken und Ideen sortieren und zeigen können.

Ruhe ist Muße. Wir brauchen sie, um regelmäßig wieder zu Kräften zu kommen, damit wir weiterhin Freude und Kraft für die Dinge haben, die wir täglich tun.

Ruhe halten bedeutet, die Seele baumeln zu lassen und ihr Raum und Zeit zum Atmen zu schenken.

Phasen des Nichtstuns und der selektiven Teilnahme am Leben sind wichtig, damit wir auch mal unsere Position und Betrachtungsweise ändern können.

Damit wir das planlose Träumen nicht verlernen und das In-den-Tag-hinein-Leben wie ein Kind genießen und zelebrieren können.

Damit wir in jedem Moment mit allen Sinnen wirklich richtig DA sind und sich unsere Gedanken nicht schon um die nächste Beschäftigung drehen oder vergangene Situationen durchspielen.

Damit wir wieder spüren und wahrnehmen: Was wir riechen, fühlen, schmecken, hören, sehen.

Ruhephasen dienen der Heilung und geben neu gelernten und erlebten Dingen die Zeit, die sie brauchen, um sich im Körper und den Zellen zu setzen.

Oft können sich erst in der Ruhe neue Ideen zeigen und aus der Langeweile heraus sind bereits große Erfindungen entstanden.

Es ist also richtig gesund, sich auch der sogenannten Langeweile ordentlich hinzugeben. Und wahnsinnig wichtig, auch Kindern diese fantastische Möglichkeit zur Kreativitätsentfaltung zu ermöglichen. Viele Erwachsene ertragen den Zustand der Langeweile nämlich selbst nicht, wollen diese ihrem Nachwuchs daher "nicht zumuten" und berauben sie dabei ungewollt großer Möglichkeiten.


Picture by Sid Leigh on Unsplash.com
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Wie bei einem neuen Haus muss ein frisch gegossener Betonboden eine längere Zeit trocknen, bevor man weiter arbeiten kann. Macht man zu früh weiter, stürzt aufgrund des fehlerhaften Fundaments irgendwann das ganze Haus ein.

Genauso ist bei uns: Wir brauchen Ruhephasen für Seele, Geist, Körper. Wir können uns nicht immer durch jeden Tag treiben und funktionieren.

Und egal, wie toll deine Freizeit ist, wie intensiv deine Freundschaften, wie fantastisch dein Sex, wie spannend deine Hobbys oder deine Arbeit sind: Ohne zwischendurch innezuhalten und mal so richtig abzuhängen, wird dein System irgendwann streiken.

Wie im Yoga gilt hier das Yin und Yang Prinzip: Alles hat zwei Seiten, die in Balance sein müssen.

Stärke braucht Schwäche. Aktion braucht Ruhe. Licht braucht Dunkelheit.

Bewerten wir Ruhe als notwendige, gesunde Seite unserer aktiven Tätigkeiten, können wir sie auch viel besser genießen und aushalten. Ruhe sollte daher aktiv gepflegter Bestandteil unseres Alltags sein. Ansonsten holt sich unser Körper die benötigten Auszeiten irgendwann selbst, und zwar in der Regel ohne unser Mitspracherecht!


4 INNERE RUHE KANN TRAINIERT WERDEN

Meinen steinigen Weg in die Ruhe fand auch ich ziemlich unfreiwillig.

Ich war über vierzehn Jahre Lehrerin: immer Action, Hamsterrad, Kopfkino oder "Monkey mind". Pausen bekam ich durch schmerzende Verletzungen oder heftige Migräneattacken. Viele Körpersymptome oder Schlafprobleme liefen im vollgepackten Alltag "so nebenbei".

 

Wie schwer mir die innere Ruhe fiel, merkte ich also erst NACH meinem Schulausstieg ohne Dauerinput und Disziplin.

 

Ich half mir unter anderem mit gnadenlosem Ausmisten, was erstmal viel Chaos im Außen beseitigte.

Des Weiteren trainierte ich gezwungenermaßen die Meditation, auch durch Online-Yogastunden in der Corona-Zeit, und mit einer App namens CALM.

Regelmäßige Atemübungen beruhigten nach und nach meinen Geist, aber ich musste mich trotzdem diszipliniert dransetzen und die Übungen machen.

Es dauerte allerdings, bis ich erkennbare Fortschritte spürte, denn lange sträubte sich JEDE Faser meines Körpers gegen das Loszulassen und die Ruhe. Alle Affen schrien vor Empörung, Gedanken und Gefühle drängten sich noch stärker ins Bewusstsein. Ich musste gegen viele innere Widerstände und Trotz ankämpfen und oft üben, bis ich mich dieser neuen Erfahrung wirklich hingeben konnte. Bis das ging, hab ich immer weiter probiert, bis es leichter wurde.

 

!!! Meditationen können sehr schwerfallen !!!

Vor allem, wenn es Dinge gibt, die wir nicht fühlen WOLLEN und eventuell auch durch unseren Aktionismus verdrängen, weil sie zu schmerzhaft sind.

Bist du betroffen oder merkst, dass Meditationen dich extrem stressen, informiere dich bitte über Traumasensitives Meditieren. Ich bin auch Fan von 

Verena König. Ihr (Hör)Buch "BIN ICH TRAUMATISIERT?" und ihre Podcasts sind toll.


Picture by Alex Plesovkich on Unsplash.com
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Es ist in jedem Fall hilfreich, die Körperwahrnehmung zu trainieren und zum Beispiel mit Meditationsvideos  oder Yogaübungen regelmäßig in den eigenen Körper zu spüren. So kannst du Unruhen rechtzeitig wahrnehmen und dich notfalls mit verschiedenen Techniken beruhigen.

Das funktioniert manchmal schon mit dem bewussten Fokussieren auf die gerade ausgeübte Tätigkeit, wie etwa mit allen Sinnen einen Apfel schälen. Manchmal hilft es, sich einer inneren Unruhe einfach hinzugeben anstatt sie zu bekämpfen. Bewertest du zum Beispiel schlaflose Nächte während einer heftigen Veränderung oder Entwicklungsphase nicht mehr, sondern akzeptierst sie als Teil des Prozesses, bist du nicht so unruhig und verzweifelt, wie wenn du dagegen ankämpfst und dich aufregst.

 

Was dich runter bringt, musst du einfach ausprobieren, aber irgendwann wirst du den Dreh raus haben.

In den meisten Fällen geht es ohnehin um deine Einstellung und die Beruhigung deines Geists - mit Aktivitäten, die dich innerlich runterfahren anstatt zu pushen. Zu viel Medienkonsum kann ebenso wie spätes und fettiges Essen sehr kontraproduktiv wirken.

Schädliche Menschen und auch Nachrichten tragen auch oft zu Unruhen bei. Mach dir bewusst, was und wer in dir Unruhe auslöst und was eventuell verändert werden sollte. Deswegen überlege dir, mit wem und was du deine Zeit verbringen möchtest.

Pflege gesundes Masturdating (Lies meinen hier verlinkten Artikel), kultiviere und genieße die Zeit mir dir selbst. 

Rituale und Routinen helfen bei der inneren Beruhigung.

Bewusste Atmung (Lies meinen hier verlinkten Artikel) verbindet Körper und Seele und bringt absolut krasse Benefits.

Auch deine Umgebung sollte friedlich, freundlich und beruhigend sein. Das kannst du durch Ordnung erreichen (Minimalism: A Documentary About the Important Things | Netflix), den richtigen Menschen auf dem Sofa, beruhigende Musik (z.B. Entspannungs-, Chill- oder Spa Playlists bei Spotify), Farben oder auch Gerüche. Probier es doch mal mit einer Duftlampe oder Raumdüften. 



 

Aber es ist eine Tatsache, dass der Weg in die innere Ruhe ein holpriger ist, den man einfach betreten und dann Schritt für Schritt, Affe für Affe, gehen muss. Du wirst nicht von heute auf morgen ruhig und ausgeglichen.

Das Hamsterrad hat einen langen Bremsweg, dein Kopfkino fährt sich viele Filme vor dem Happy End und deine springenden Affen brauchen sehr viele Grenzen und Training, bis sie sich besser benehmen.

Wenn du den ersten Schritt gehst und deine Gewohnheiten und Betrachtungsweisen Tag für Tag ein bisschen änderst, dann werden sich mit ein bisschen Disziplin automatisch immer mehr Ruhe und Gelassenheit in deinem Leben einstellen.

Also - viel Erfolg und nicht vergessen:

KEEP CALM AND CARRY ON!


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Kommentare: 0
Kommentare: 2
  • #2

    p6majo (Freitag, 10 Januar 2020 20:46)

    Hallo Annika,

    ich lese Deine Soulkanguruh-Sprünge sehr gern. Oft dreht es sich ja um das Thema Liebe. Deshalb würde ich an dieser Stelle gern eine provokante These in den Raum stellen. Ich bin kein Philosoph und habe auch keinen fundierten Hintergrund für meine These. Es sind einfach nur Gedanken und Du kannst den Kommentar jederzeit wieder entfernen (hoffe ich).

    Was ist Liebe?
    Kurz: Es gibt zwei Säulen der Liebe, alles darüber hinaus ist eine gesellschaftliche, moralische und romantische Überhöhung bzw. Glorifizierung.

    1. Säule: Die sexuelle Anziehung zwischen zwei Menschen, getriggert durch Schemata, biochemische Botenstoffe und eventuell Verhaltensmuster, die es uns ermöglichen sollen, einen möglichst geeigneten Paarungspartner zu finden.
    2. Säule: "kin selection" --- kurz: das durch Evolution selektierte Verhaltensmuster, sich um Kinder und nahe Verwandte bis hin zu Selbstaufgabe zu kümmern und zu sorgen.

    Beide Säulen sind bei den meisten Tierarten auf der Welt zu finden und meiner Meinung nach die Essenz von all dem, was wir als Liebe bezeichnen. Alles andere ist der Versuch, uns Menschen zu etwas Besonderem zu machen (was wir meiner Meinung nach aber nicht sind), oder aber ein moralischer Überbau oder netter formuliert, allgemein akzeptierte Wertvorstellungen, um unser Handeln in gesellschaftlich-konforme Bahnen zu lenken. Allerdings sind diese Wertvorstellungen nicht immer mit den Säulen 1. und 2. vereinbar, was die Ursache für das meiste "Liebesleid" auf dieser Welt sein könnte.

  • #1

    Teale (Sonntag, 22 September 2019 02:53)

    You're a legend Annika. Love your words and the pictures used.