Achtung – dieser Artikel setzt voraus, dass du die Serie kennst.
Das, was FEHLT
Die Netflix-Miniserie Sirens stammt von Molly Smith Metzler, und hat einen klaren Fokus: Frauen. Ihre Wunden. Ihre Bindungen. Ihre Ambivalenz. Sirens wird als „dark comedy“ beschrieben. Ich fand an ihr gar nichts lustig. Denn - auch, wenn sich vordergründig in den Luxusvillen einer reichen Ostküsteninsel abspielt – ihr eigentliches Thema ist das Zuhause. Und das, was fehlt.
Für Metzler dreht sich alles um die Fragen: Bist du dein Ursprung? Was schuldest du diesem Ursprung, diesem Zuhause? Was schuldest du den Menschen, die dich in die Welt gebracht haben?
Und das erste Zuhause eines jeden Menschen ist die Mutter. Wir wachsen in ihr, hängen an ihr, kommen aus ihr. Und wenn sie fehlt – körperlich, emotional, psychisch – dann ist dieses Loch nie wieder ganz zu stopfen. Und Mütter fehlen in dieser Serie schmerzhaft.

Sirenen sind in der griechischen Mythologie vogelartige Mischwesen – halb Frau, halb Greifvogel (Hallo Falken-Auffangstation!). Laut Legende waren sie die Begleiterinnen Persephones und - wie sie - Töchter von Zeus. Und wurden am Ende auf eine Insel verbannt, von wo aus sie Seefahrer mit ihrem Gesang ins Verderben lockten.
Auch Zeus taucht übrigens in der Serie auf – als Smart-Home-System. Wer Licht will, sagt: „Zeus, turn on the light.“ Ein Sprachbefehl. Ein unsichtbarer Gott. Eine Instanz, die Macht über Sichtbarkeit hat. Wer gesehen werden will, muss den Namen des Patriarchen sagen.
Die Sirenen wurden bisher immer aus Sicht der Männer beschrieben. Schöpferin Metzler dreht dieses Bild um: In ihrer Version sind Sirenen verletzte Frauen, deren Gesang kein Lock-, sondern Hilferuf ist. Die Männer stürzen sich selbst ins Unglück und suchen anschließend eine Projektionsfläche für ihr eigenes Versagen. Sirens erzählt die Perspektive derer, die überhaupt nie schwimmen konnten. Denn keine Frau in dieser Serie ist eine Sirene, weil sie Männer verführt. Sondern weil sie etwas braucht, das ihr niemand gibt: Halt.
Das Loch, das alles bestimmt

Die abwesende Mutterenergie ist das eigentliche Vakuum dieser Serie. Sie ist der blinde Fleck, der jede Szene formt, jede Handlung unterwandert, jede Beziehung verzerrt. Sie macht anfällig für Ersatz – für Konsum, für Kontrolle, für Manipulation, für Kälte. Für das Außen, weil das Innen leer ist. Michaela aka "Kiki", Ende 50, Ehefrau von Peter Kell, einem billionenschweren CEO um die 60, und Simone und Devon, zwei Schwestern aus ärmlichen Verhältnissen in Buffalo, verloren alle früh ihre Mutter. Michaela sagt: „I can spot the motherless ones in any room.“ Der Schmerz des Mutterverlusts ist sichtbar, macht verletzlich und angreifbar.
Peter verlässt seine Ehefrau Michaela am Ende der Serie – weil sie keine Mutter sein konnte. Ihre Reproduktionsorgane waren der einzige relevante Teil ihres Körpers im Ehevertrag. Die nicht erfüllte Mutterrolle als Bruchstelle. Sie wird überdies zur bösen Stiefmutter stilisiert, die Peter den Kontakt zu seinen Kindern verbaute. Dass ihr Ehemann trotz eigenes Jets und Billionen auf dem Konto über ein Jahrzehnt nicht schaffte, seine Kinder an seinen Leben teilhaben zu lassen, möchte er nicht thematisieren.
Peters erste Frau, die Mutter seiner Kinder, wird totgeglaubt – ermordet von ihrer Rivalin! Doch sie lebt. Sie hat sich nur nach einer verunglückten Beauty-OP nach der Trennung zurückgezogen. Zerbrochen an der Pflicht, schön zu bleiben, formbar zu sein.
Auch Simone und Devon tragen die Mutter-Wunde. Ihre hochgradig depressive Mutter brachte sich um, wollte ihre siebenjährige Tochter Simone mit im Auto vergasen. Schwester Devon konnte den körperlichen Tod der kleinen Schwester verhindern. Bis heute macht der alkohol- und nun demenzkranke Vater die Mutter für seinen eigenen Verfall verantwortlich – ein klassischer patriarchaler Mechanismus.
Motherless Porn: Wie jede Frau ihr Loch füllt
Online wird darübergeschrieben, dass Sirens die Dynamik von Kulten darstellt, die Abgründe der Reichen. Meiner Meinung nach geht es in Sirens darum, wie mutterlose Frauen ihr inneres Vakuum füllen. Jede Figur tut es auf ihre Weise mit Ersatzbefriedigungen - mit innerem Porno für den kindlichen Schrei nach Bindung. Denn wenn das wichtigste emotionale Fundament fehlt, muss man es durch irgendetwas füllen.
Michaela: Wealth Porn & Mommy Issues
High Society Lady Michaela, die von Devon als Kultführerin bezeichnet wird, inszeniert sich als Gebende, füllt ihr Loch mit Reichtum, Wohltätigkeit, Kontrolle und einer sorgfältig kuratierten Version von Nähe. Sie nennt Simone „Best Friend“, zahlt ihr Geld, verschafft ihr Aufträge – aber kennt sie nicht wirklich. Michaela braucht Simone nicht als Mensch, sondern als Spiegel. Ihr Reichtum ist nicht nur Status, sondern Panzer. Ihre drei Freundinnen wirken wie gleichgeschaltete Roboter und was sie sagen, hat Funktion. Sie sind Michaelas Affirmationschor. Und sie singen ganz sirenenmäßig Zeilen wie „There’s some whores in this house. Get some wet-ass pussy.“
Michaelas Wealth Porn besteht aus Perfektion und der Illusion, dass Geld Nähe kaufen kann. Doch sobald jemand aus der Rolle fällt, wird er ersetzt. Weil sie selbst jederzeit ersetzbar ist. Sie verführt nicht sexuell. Sondern mit Worten, mit Stimme, mit Nähe, mit Blicken. Wie eine Sirene, die weiß, wie man andere bindet. Michaela will Nähe – aber nur, wenn sie kontrollieren kann. Selbst der in ihrer Vogelstation aufgepäppelte Falke, den sie freilässt, fliegt zu ihr zurück - mit voller Wucht durch ihr Schlafzimmerfenster – und stirbt.
Michaelas Badewannenmoment mit Devon ist sinnbildlich: Michaela, wie eine Nixe im Schaum, verführt Devon mit mütterlicher Zuneigung: Ich sehe dich. Wer hat dich jemals gehalten? Wer hat dich jemals wertgeschätzt?
Simone: Belonging Porn & die Flucht von der Vergangenheit
Simone, Mitte 20, perfekt gekleidet, beste Freundin und Assistentin von Michaela, die aber von den Angestellten gemobbt wird - ist zutiefst traumatisiert. Sie rennt vor ihrem Ursprung weg. Doch dieser Trauma-Nebel macht sie zur perfekten Angestellten, perfekten Freundin, perfekten Projektionsfläche für Michaelas Bedürftigkeit. Denn Simone sucht – nach horrormäßigen Kindheitserfahrungen voller Missbrauch und Vernachlässigung - verzweifelt nach Zugehörigkeit. Sie sehnt sich nach innerem Frienden, dem Gefühl, endlich irgendwo richtig und sicher zu sein. Sie hängt sich an Michaela, nimmt ihre Komplimente ernst, glaubt an ihre Zuwendung. Erst spät erkennt sie: Ihre Position ist erkauft. Diese Beziehung findet nicht auf Augenhöhe statt. Das ist keine Freundschaft, sondern Abhängigkeit. Girl - man sieht das auf den ersten Blick! Es ist kein Zufall, dass Simone von einer Schauspielerin dargestellt wird, die locker erst fünfzehn sein könnte. Und je mehr Simone sich ihren Dämonen stellt, je mehr sie sich löst, desto stärker wird ihre eigene Stimme.
Devon: Martyr Porn & Rettung als Selbstzweck
Devon, ältere Schwester mit Alkoholproblemen und einem Job in einem Falafelladen, steckt in einem Trauma-Loop; sie identifiziert sich komplett mit ihrem Ursprung. Laut. Wütend. Abwehrend. Ihr Porno ist Märtyrertum. Aufopferung. Devon hat Simone wortwörtlich vor dem Tod gerettet. Diese Tat ist ihr innerstes Narrativ. Ihre Daseinsberechtigung. Sie betreut ihren alkohol- und nun demenzkranken Vater, der die Schwestern früher zutiefst vernachlässigte. Sie trinkt, macht Männer mit einem einzigen Nicken gefügig. Ihre Bedürftigkeit ist so tief, dass sie sich nicht eingestehen kann, wie sehr sie selbst Halt braucht.
Devon kann nicht zulassen, dass Simone freiwillig bei Michaela bleibt, den Vater nie wieder sehen möchte. Dass Simone ihre Wahl trifft. Denn dann ist Simone kein Opfer mehr. Und wer ist Devon dann? Sie braucht Simones Abhängigkeit. Ihre Reaktion ist keine reine Sorge. Es ist Angst. Kontrollverlust. Rollenverlust. Devon ist die Mutter, die nie Kind sein durfte – und in ihrem inneren Porno dreht sich alles um Selbstaufopferung und Rettung. Aber retten kann sie nur, wenn die anderen hilflos bleiben. Und sie selbst kaputt.
Männer, die nie bekamen, was sie brauchten

In Sirens wird deutlich, wie stark auch die männlichen Figuren unter ungelösten Kindheitskonflikten leiden – insbesondere unter dem Mangel an mütterlicher Fürsorge und emotionaler Reife. Ihre Reaktionen auf Zurückweisung oder Kontrollverlust sind überzogen, regressiv, teilweise aggressiv. Sie wirken wie emotionale Kinder im Körper erwachsener Männer – sobald ihnen jemand die emotionale Brust anbietet oder verweigert. Denn das zeigt die Serie auch: Die innere Leere der Frauen zieht Männer an wie ein schwarzes Loch. Als wäre ihr Geschlechtsteil, ihre Unterstützung das, was es füllen kann.
Gleich drei Männer rennen wie kleine Jungs Devon hinterher – egal, wie oft sie ihnen sagt, sie sollen abhauen. Ray, Devons Chef und Liebhaber, ist selbst verheiratet und Vater, aber bereit zu ertrinken, weil Devon ihn wegschickt. Seriously?!
„Man Baby“ Ethan, der beste (und alte) Freund von Peter, hört von Simones Kindheit – und denkt, ein Heiratsantrag sei die Lösung. Er versteht nicht, wie tief ihr Trauma reicht und ist wütend, dass sie ihn ablehnt. Er betrinkt sich daraufhin ungehemmt, pöbelt und behauptet, Simone hätte versucht, ihn umzubringen, weil sie IHN abgelehnt hat. Wo der alternde Playboy mit den gefärbten Haaren sich doch das erste Mal einlassen wollte.
Peter erfährt von Simones Panikanfall, fühlt sich mit ihrem Schmerz verbunden (denn er hat auch Panikanfälle! How sweet!) und sobald sie ihm Aufmerksamkeit in einem unschuldigen Gespräch schenkt, küsst er sie. Obwohl sie keinerlei Avancen macht und locker mindestens 30 Jahre jünger ist als er. Je mehr er über ihr tiefes Trauma erfährt, desto anziehender wird sie für ihn. Denn er sieht eine Frau, die nie gehalten wurde. Er bietet jedoch keinen väterlichen Schutz, sondern sich selbst als Mann mit faltigem Hals. Als neue Position. Und möchte auf einmal noch ein Baby bekommen, obwohl er gerade Großvater geworden ist.
DAS ENDE DER SIRENEN
Der Notfallcode zwischen Devon und Simone lautet: „Sirens“. Für Simone hat dieses Wort keine Bedeutung mehr seit der Entfernung ihres trashigen Schwesterntattoos. In der vorletzten Folge „Persephone“ wird sie wie die gleichnamige Göttin der Unterwelt mit ihren eigenen Dämonen konfrontiert: Erst die Grenzüberschreitung durch ihren Boss, dann ein unpassender Heiratsantrag und dann ihr Vater, den sie seit dem Gerichtsprozess, in dem ihm wegen Vernachlässigung das Sorgerecht entzogen wurde, nicht mehr gesehen hatte.
Peter, der alte, reiche Sack, hat sich an Simone rangemacht – das ist klar. Und doch ist es Simone, die am Ende von Michaela bestraft wird. Warum? Weil Michaela ihre „Queen Bee“-Position verteidigt. Sie selbst weiß, was es heißt, vom Thron gestoßen zu werden – sie hat es mit ihrer Vorgängerin genauso gemacht. Doch anstatt sich in ihrem Schmerz mit Simone zu verbinden, feuert sie sie, zerstört damit ihre Lebensgrundlage – und schlussendlich auch sich selbst. Denn anstatt Simone wird am Ende Michaela aus dem Haus geworfen und darf nicht mal an ihrer eigenen Gala teilnehmen. Peter tauscht die Frau an seiner Seite einfach aus wie seine nach Lavendel duftenden Unterhosen – ohne mit der Wimper zu zucken. Scheint in seiner Welt aber normal zu sein - alle registrieren den plötzlichen Wechsel - und machen weiter wie bisher.

Nach der Konfrontation mit ihrer Unterwelt steigt Simone wie Persephone auf zur Königin des Hauses auf der Klippe. Nicht, weil sie verliebt ist. Sondern weil sie verstanden hat, wie sie in dieser Welt überlebt, wie sie sich ihre Macht und ihre Stimme zurückholt.
Als Michaela und Devon am Ende noch einmal aufeinandertreffen, findet ein ehrlicher Austausch statt. Michaela sagt: „It took him 13 years to find out I’m a monster.” So als hätte sie immer darauf gewartet, dass Peter sie für all sein Unglück verantwortlich macht. Devon antwortet: „You’re not a monster.” „And neither is she.” – sagt Michaela in Bezug auf Simone. Die Sirenen untereinander verstehen den Kampf der anderen.
In einer Welt, in der unreife Männer trotz Billionen auf dem Konto keine emotionale Verantwortung tragen und Frauen für ihr Unglück verantwortlich machen, müssen Frauen überleben, klug sein, sich gegenseitig manipulieren oder opfern. Nicht, weil sie böse sind, sondern weil es unter diesen Umständen schwer ist, Schwestern zu sein.
SIND WIR UNSER URSPRUNG?
Am Ende bleibt keine einfache Antwort – aber eine klare Wahrheit: Ja, du bist dein Ursprung. Er wird dich immer einholen, denn er lebt in dir – vor allem, wenn es um deine Mutter geht. Und wenn dieses erste Zuhause nicht sicher war, nicht warm, nicht nährend, oder plötzlich weg - dann bleibt ein Loch. Ein Hunger. Eine Suche. Doch auch wenn dich das geprägt hat – du bist nicht daran gebunden. Du darfst loslassen, was dich klein hält. Du darfst ein neues Zuhause bauen – in dir selbst, in Beziehungen, die wirklich tragen. Nicht aus Schuld, sondern aus Wahl. Du kannst den Ursprung ehren – und trotzdem gehen. Er muss kein Schicksal bleiben. Und das bedeutet vielleicht: Du stehst allein auf der Klippe – und zum ersten Mal schreist du nicht, sondern atmest.
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