Die Auseinandersetzung mit Missbrauch in Filmen kann tief berühren und oft auch verstören. Zwei sehr unterschiedliche Werke, die kürzlich auf NETFLIX veröffentlicht wurden, It Ends With Us (Nur noch ein einziges Mal) und Adolescence, haben mich in letzter Zeit aufgewühlt und beschäftigt – jedoch auf völlig unterschiedliche Art.
Adolescence: Erschütternd, intensiv und bedrückend real
Obwohl die Miniserie Adolescence erst am 13. März 2025 auf Netflix veröffentlicht wurde, erreichte sie bereits in den ersten vier Tagen weltweit 24,3 Millionen Abrufe, führt nur 2 Wochen später in 71 Ländern die Streaming-Charts an, wird von Kritiker:innen gelobt, erhält auf der Bewertungsplattform Rotten Tomatoes ganze 99 Prozent Zustimmung und entfacht bereits globale Debatten. Denn die Serie handelt von der Festnahme eines Dreizehnjährigen wegen des Mordes an einer Mitschülerin und den Hintergründen der Tat. Es geht um psychische Manipulation durch Internetinhalte, male rage und toxische Männlichkeit.
Auf Empfehlung von Tova Leigh, einer Influencerin, die schonungslos offen über gesellschaftliche Missstände und Themen wie Frauenrechte, sexuelle Gewalt und die Rolle der Medien bei der Verharmlosung toxischer Dynamiken schreibt, habe ich mir die vier Folgen letzte Woche direkt angeschaut und war tief bewegt. Mich fesselte besonders die außergewöhnliche Kameraführung: Jede Episode ist mit einer einzigen Kamera gedreht, die den Personen folgt und somit eine ganz spezielle und detaillierte Choreographie erforderte, wodurch eine enorme Intensität und Nähe entstehen. Dazu kommen überragende Schauspieler:innen, die die Geschichte mit unglaublicher Authentizität zum Leben erwecken und – um das „Opfer“ zu würdigen - einer Filmscore mit der Stimme der Schauspielerin, die das getötete Mädchen spielt.

It Ends With Us: Ein Film, der die dunkle Wahrheit nicht sehen will
Ein solcher Umgang mit Missbrauchsthematiken ist leider nicht selbstverständlich. Das zeigt sich besonders deutlich am Beispiel von It Ends With Us. Die Verfilmung von Colleen Hoovers Bestseller war von Beginn an umstritten – und das aus gutem Grund. Die zentrale Geschichte dreht sich um Lily Bloom, die in eine Beziehung mit dem charismatischen, aber gewalttätigen Ryle gerät. Wie das Buch stellt auch der Film den inneren Konflikt einer misshandelten Frau dar, scheitert jedoch ebenso daran, eine klare Haltung gegen häusliche Gewalt und toxische Beziehungen zu vermitteln. Stattdessen wird die toxische Beziehung als tragische Liebe - natürlich zwischen zwei extrem attraktiven und perfekt gestylten Menschen - dargestellt, die trotz der Gewalt eine tiefe Verbindung beinhaltet. Statt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema zu liefern, setzt die Produktion auf oberflächliche Emotionalität und verzerrte Narrative. Die komplexen Dynamiken von Missbrauch werden vereinfacht, die schwierige Realität vieler Betroffener zugunsten einer konventionellen Hollywood-Romantik geglättet.
Baldonis Doppelmoral: Ein toxischer Film über toxische Beziehungen?

Besonders irritierend ist, dass Justin Baldoni, der sich als Verfechter von "geheilter Männlichkeit" und Feminismus positioniert, eine so fragwürdige Narrative über Missbrauch reproduziert. Der Film verharmlost zentrale Aspekte häuslicher Gewalt, insbesondere den schwierigen Prozess der Trennung. Wer sich mit der Realität von Missbrauchsüberlebenden auseinandergesetzt hat, weiß, dass es selten eine problemlose Trennung gibt, wie sie im Film dargestellt wird. In Wirklichkeit sind Opfer oft jahrelang gefangen, sei es durch psychologische Manipulation, wirtschaftliche Abhängigkeit oder Angst vor Vergeltung.
Die renommierte Psychologin Dr. Ramani hat in einem YouTube-Video mit dem Titel What 'It Ends With Us' Gets Wrong About Abuse genau diesen Punkt kritisiert: Der Film vermittle eine falsche Vorstellung davon, wie einfach es sein soll, aus einer toxischen Beziehung auszubrechen. Echte Opfer könnten sich durch diese Darstellung nicht ernst genommen fühlen – ein unverzeihlicher Fehler für ein Werk, das sich diesem sensiblen Thema widmet.
Schlimmer noch: Hinter den Kulissen entfaltete sich ein Skandal, der das gesamte Projekt in ein fragwürdiges Licht rückt. Hauptdarsteller:innen Blake Lively und Justin Baldoni schienen mehr an ihrer eigenen Karriere als an einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema interessiert zu sein. Kürzlich reichte Lively eine Klage wegen sexueller Belästigung gegen Baldoni ein, der daraufhin mit einer 400-Millionen-Dollar-Gegenklage wegen Verleumdung und Erpressung gegen sie, ihren Ehemann Ryan Reynolds und ihre Publizistin Leslie Sloan konterte. Diese Eskalation gibt der ohnehin schon umstrittenen Produktion einen noch unangenehmeren Beigeschmack.
Blumen statt Brutalität: Wenn Marketing wichtiger ist als die Botschaft

Ein weiterer Aspekt, der stutzig macht: Lively soll zunächst die Zusammenarbeit mit einem Intimitätskoordinator abgelehnt haben, was besonders heikel ist, da sie eine Vergewaltigungsszene drehen musste. Später behauptete sie, während dieser Szene sei kein Intimitätskoordinator anwesend gewesen.
Noch absurder wird es, wenn man sich die Bewerbung des Films anschaut, denn anstatt sich auf die wichtige Message zu konzentrieren, wurde alles zur Werbefläche für persönliche Markeninteressen degradiert: Man warb mit einer kitschigen Blumensästhetik sowie romantisierten Bildern und Lively nutzte die Gelegenheit, um ihre Lifestyle-Produkte zu vermarkten.
Besonders irritierend ist auch Justin Baldonis Rolle als Coach und Podcaster, der sich für männliche Heilung und emotionale Verantwortung einsetzt. Wie passt es zusammen, dass jemand, der öffentlich für Selbstreflexion und positive Männlichkeit steht, Teil eines Films ist, der Missbrauch so fahrlässig behandelt? Und warum wurde anscheinend nicht mit Therapeuten und Psychologen zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass die Darstellung realistisch ist? Gerade von einer Persönlichkeit wie Baldoni hätte man erwarten können, dass er sich für eine authentische Umsetzung starkmacht.
Adolescence als Lehrstück: Wie man schwierige Themen mit Integrität erzählt
Im direkten Vergleich wird deutlich, wie viel Adolescence richtig macht. Es mag auch daran liegen, dass die Serie aus Großbritannien und eben nicht Hollywood kommt. Hauptdarsteller Stephen Graham, der das Drehbuch zusammen mit Jack Thorne schrieb, ließ sich dabei von der besorgniserregenden Zunahme von Femiziden unter Jugendlichen in England inspirieren. Er wollte verstehen, warum immer mehr junge Mädchen von gleichaltrigen Jungen ermordet wurden und tauchte tief in die Welten toxischer Männlichkeit und Online-Radikalisierung ein. Dafür setzte er sich intensiv mit seinen eigenen Teenager-Kindern zusammen und lernte von ihnen über Emojis, Incels und all die für Erwachsene schwer zugänglichen subtilen Verhaltensweisen. Das Ergebnis ist eine packende Miniserie mit vier Folgen, die nicht nur die Stimmung unserer Zeit punktgenau trifft, sondern weltweit ein Millionenpublikum tief bewegt und die behandelte Thematik anstatt die Probleme der Darsteller rund um den Globus zum Gesprächsthema macht.
Wie It Ends With Us handelt auch Adolescence von toxischer Männlichkeit. Doch Stephen Graham ist nicht nur ein beeindruckender Schauspieler, der vor allem für seine mitfühlenden Darstellungen bekannt ist, sondern auch bescheidener und bodenständiger Mensch: Aufgrund seiner Legasthenie lässt er seine Frau die Skripte lesen und aussuchen und bot sogar einem jungen Co-Star nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter an, ihn zu adoptieren. Seine Empathie und sein großes Herz spiegeln sich auch in Adolescence wider: Gemeinsam mit Regisseur Philip Baranti beschloss er, den anderen Jungen, die für die Hauptrolle in Frage kamen, Parts in der Serie zu geben "to not break their little hearts" und um ihnen Schauspielerfahrungen zu bieten. Der Film zeigt, wie - mit der Hilfe von ganz viel Menschlichkeit im Entstehungsprozess - ein Werk über Missbrauch wirklich aussehen kann. Ohne falsche Antworten, vorteilhafte Darstellungen, klischeehafte Hollywood-Dramatik oder Schönlinge, sondern mit einer ungeschminkten, kompromisslosen Ehrlichkeit, die unter die Haut geht.
Echte Tiefe vs. leere Hülle: Zwei Werke, zwei Welten
Adolescence beweist, dass es möglich ist, Missbrauch und Gewalt in ihrer ganzen Tragweite zu zeigen, ohne dabei reißerisch oder voyeuristisch zu werden. Aber dafür braucht man Menschen mit Herz und Vision, die sich nicht selbst inszenieren und in der Lage sind, ein Thema über ihr Ego zu stellen. Die Miniserie hat es mittlerweile bis ins Britische Parlament geschafft und soll zukünftig verpflichtend an weiterführenden Schulen unterrichtet werden.
Während It Ends With Us lediglich eine oberflächliche Darstellung bietet, die auch aufgrund der um sich selbst kreisenden Stars keine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Missbrauch ermöglicht, sondern - ganz im Gegenteil - sogar missbräuchliche Verhaltensweisen darüber hinaus offenlegt, ist Adolescence ein absolutes Must-Watch, für britische Schüler:innen bald ohnehin – eine Serie, die den Mut hat, die volle Komplexität dieser Themen zu zeigen und dabei authentisch und respektvoll bleibt.
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Klaas Behrens (Dienstag, 08 April 2025 12:56)
Ja das hast Du wirklich eindrucksvoll geschildert und mit Bildern versehen.Vielen lieben Dank dafür